In meiner Praxis als Psychotherapeutin und Beziehungsexpertin begegne ich täglich der faszinierenden Vielfalt menschlicher Beziehungsformen. Die Zeiten, in denen ein einziges Modell – die lebenslange, sexuell und sozial exklusive Monogamie – als alleiniger Maßstab galt, sind längst vorbei. Heute leben Menschen in offenen Beziehungen, Polyamorie-Netzwerken, pflegen platonische Partnerschaften oder finden andere, ganz individuelle Wege, Liebe, Nähe und Sexualität zu gestalten.
Doch mit dieser wachsenden Vielfalt geht oft auch Verwirrung einher. Begriffe wie „offene Beziehung“, „Polyamorie“, „Swingen“ oder „Freundschaft plus“ werden häufig synonym verwendet, obwohl sie teils sehr unterschiedliche Konzepte beschreiben. Es fehlt oft an einer klaren Sprache und einem verständlichen Rahmen, um diese Unterschiede zu erkennen und darüber zu sprechen – sei es mit dem Partner, der Partnerin, Freunden oder auch in der Therapie.
Aus diesem Bedürfnis nach Klarheit und Verständlichkeit heraus habe ich die „Achse der Monogamie“ entwickelt. Es ist ein Werkzeug, ein visueller Kompass, der dabei helfen soll, die eigene Beziehungsform zu verorten, verschiedene Modelle zu verstehen und eine gemeinsame Basis für Gespräche zu schaffen.
Die zwei Dimensionen von Beziehungen: Sozial und Sexuell
Das Herzstück der Grafik sind zwei Achsen, die zwei grundlegende Dimensionen von Partnerschaften abbilden: die soziale und die sexuelle Dimension. Oft denken wir bei Monogamie oder Nicht-Monogamie primär an Sex, aber das greift zu kurz. Unsere Beziehungen haben immer auch eine starke soziale Komponente. (Artikel dazu in meinem Blog auf derstandard.at)
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Die horizontale Achse: Sexuelle Monogamie vs. Sexuelle Nicht-Monogamie Diese Achse beschreibt, wie Partner:innen ihre Sexualität gestalten.
- Links (Sexuelle Monogamie): Hier finden wir Beziehungen, in denen sexuelle Exklusivität vereinbart ist oder gelebt wird. Sexuelle Handlungen finden ausschließlich innerhalb dieser einen Partnerschaft statt. Wenn wir sexuelle Monogamie als „intime Praktiken“ definieren, ergeben sich zusätzliche Betrachtungsweisen.
- Rechts (Sexuelle Nicht-Monogamie): Auf dieser Seite sind Beziehungen angesiedelt, in denen sexuelle (und intime) Kontakte auch außerhalb der primären Partnerschaft stattfinden können oder stattfinden. Wichtig ist hier – und darauf komme ich noch – ob dies einvernehmlich geschieht oder nicht.
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Die vertikale Achse: Soziale Monogamie vs. Soziale Nicht-Monogamie Diese Achse betrachtet die Beziehungsstruktur auf der sozialen Ebene. Wie präsentieren sich Partner nach außen? Wie gestalten sie ihren Alltag, ihr Zusammenleben, ihre emotionalen und unterstützenden Netzwerke?
- Oben (Soziale Monogamie): Hier geht es um Paare, die als primäre Einheit leben und sich als solche nach außen präsentieren. Sie teilen oft einen Haushalt, Ressourcen und Verantwortlichkeiten und gelten im sozialen Umfeld als „das Paar“.
- Unten (Soziale Nicht-Monogamie): Hier finden wir Konstellationen, in denen mehr als zwei Personen ein soziales Beziehungsgeflecht bilden, das über eine reine Paarbeziehung hinausgeht, oder in denen eine Person bewusst keine primäre, sozial definierte Paarbeziehung lebt.
Ein Rundgang durch die Landschaft der Beziehungen
Durch die Kombination dieser beiden Achsen entstehen vier Quadranten, in denen sich verschiedene Beziehungsformen verorten lassen:
- Oben Links (Sozial & Sexuell Monogam): Das ist der „klassische“ Quadrant der Monogamie, wie sie traditionell verstanden wird: Ein Paar, das sozial als Einheit auftritt und sexuell exklusiv ist.
- Unten Links (Sozial Nicht-Monogam & Sexuell Monogam): Dieser Quadrant ist wohl der interessanteste in meiner Grafik. Hier wird emotionale Co-Abhängigkeit der klassisch hetero-mono-normativen Beziehung aufgebrochen. Platonische Beziehungen sind hier angesiedelt, sowie Freundschaften. Es ist eine interessante Frage, welche Beziehungsformen hier noch angesiedelt sein könnten. Vielleicht eine Person in einem „polyamoren“ Netzwerk, die zwar sozial tief mit mehreren Menschen verbunden ist, aber nur mit einer Person sexuell aktiv ist? Oder Gemeinschaften, die sozial eng verbunden sind, aber sexuell monogame Paare bilden? Dieser Bereich lädt zur weiteren Reflexion ein.
Die Achse der sexuellen Monogamie habe ich mittig extra den Bereich der Nicht-Einvernehmlichkeit eingezeichnet. Der entscheidende Punkt ist die Frage der Einvernehmlichkeit. Viele leben zwar offiziell „monogam“, und gehen dennoch fremd. Consensual Non-Monogamy (CNM) ist der Überbegriff für alle einvernehmlichen Formen.
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- Die „Don’t ask, Don’t tell“-Politik ist meiner Erfahrung nach die konfliktbeladenste Beziehungsform. Außenkontakte sind erlaubt, werden aber nicht im Detail besprochen werden – auch dies kann einvernehmlich sein, und wird häufig verwendet um Fremdgehen zu maskieren. Daher habe ich diese Beziehungsform hier über mehrere Bereiche angesiedelt
- Oben Rechts (Sozial Monogam & Sexuell Nicht-Monogam): Dies ist ein sehr spannender Bereich, da wir hier die meisten Begrifflichkeiten sehen und kennen. Hier lebt ein Paar sozial als Einheit, hat aber sexuelle Kontakte außerhalb der Beziehung.
- Einvernehmlich
- Dazu gehört zB die Offene Beziehung, ein 3er (Threesome), oder auch Gruppensex.
- Swingen bezeichnet oft Paare, die gemeinsam sexuelle Erfahrungen mit anderen Paaren oder Einzelpersonen suchen, wobei der Fokus oft auf dem gemeinsamen sexuellen Erleben liegt, und soziale Monogamie ein Nicht Ziel ist.
- uvm
- Nicht einvernehmlich
- Der Seitensprung (eher einmalig und daher zumeist sozial monogam) bzw Seitensprünge sind ebenfalls sexuell nicht-monogam, verletzen aber die (oft unausgesprochene) Vereinbarung der sexuellen Exklusivität und basieren auf Heimlichkeit und Vertrauensbruch. Sie sind nicht Teil von CNM.
- Einvernehmlich
- Unten Rechts (Sozial & Sexuell Nicht-Monogam): Hier finden wir Beziehungsformen, die sowohl auf sozialer als auch auf sexueller Ebene mehr als zwei Personen einbeziehen.
- Polyamorie ist das bekannteste Beispiel. Hier geht es um die Fähigkeit und den Wunsch, mehrere liebevolle, romantische und oft auch sexuelle Beziehungen gleichzeitig zu führen – und das transparent und einvernehmlich. Polyamore Netzwerke können sehr komplex sein und gehen über das klassische Paarmodell hinaus.
- Nicht einvernehmlich
- Affairen können über Jahre hinweg heimliche Zweitbeziehungen sein. Sie sind nicht Teil von CNM.
Die Grenzen sind oft fließend, was als offene Beziehung begann, kann zu Polyamorie werden – um nur ein Beispiel zu nennen.
Ein Werkzeug
Die „Achse der Monogamie“ soll helfen, die Landkarte der Beziehungen besser zu verstehen. Sie ist kein starres System und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Jede Beziehungsform hat ihre eigenen Herausforderungen und Glücksmomente. Wichtig ist, dass die gewählte Form zu den Bedürfnissen aller Beteiligten passt und – im besten Fall der Nicht-Monogamie – auf Konsens, Ehrlichkeit und offener Kommunikation basiert.
Die Grafik soll ermutigen:
- Zur Selbstreflexion: Wo stehe ich? Wo steht meine Beziehung? Was sind meine Wünsche und Grenzen?
- Zur Kommunikation: Sie kann als Grundlage dienen, um mit Partner:innen über Erwartungen und Beziehungsmodelle zu sprechen.
- Zum Verständnis: Sie hilft, die Vielfalt anzuerkennen und Vorurteile abzubauen.
Laden die Grafik herunter
Ich stelle die „Achse der Monogamie“ gerne zur Verfügung. Sie kann heruntergeladen und für eigene Zwecke genutzt werden – sei es für private Gespräche, für Bildungsarbeit oder therapeutische Kontexte.
Die Grafik steht unter der Creative Commons Lizenz CC BY-ND 4.0. Das bedeutet:
- BY (Namensnennung): Sie dürfen die Grafik frei kopieren und weiterverbreiten, solange Sie mich (Natascha Ditha Berger) als Urheberin nennen und idealerweise auf meine Website (nataschadithaberger.com) verlinken.
- ND (No Derivatives / Keine Bearbeitung): Sie dürfen die Grafik nicht verändern oder bearbeiten. Wenn Sie sie verwenden, dann bitte im Originalzustand.
Ich hoffe, dass dieser Kompass dabei hilft, sich in der bunten und sich wandelnden Welt der Beziehungen besser zurechtzufinden. Wenn du das Gefühl hast, Unterstützung auf deinem Weg zu benötigen, sei es in einer monogamen, offenen, polyamoren oder einer ganz anderen Form von Beziehung, zögere nicht, Kontakt aufzunehmen.
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